«Es ist schwieriger, oben zu bleiben»

 

 

Stephan Lichtsteiner (29) ist Stammspieler in der Schweizer Nationalmannschaft und beim Traditionsverein Juventus Turin. Aufgewachsen ist er in Adligenswil. Der verlorene Sohn über Druck, Emotionen und Heimat.

Stephan Lichtsteiner, zwei wichtige WM-Qualifikationsspiele gegen Island (4:4) und Norwegen (2:0), das «Derby dItalia» gegen Inter Mailand (1:1): Es liegen intensive Tage hinter Ihnen. Wie haben Sie diese erlebt?

Stephan Lichtsteiner: Im Grossen und Ganzen positiv. Natürlich hätte ich es bevorzugt, wenn wir mit der Nationalmannschaft gegen Island und mit Juve gegen Inter gewonnen hätten, denn schliesslich gehe ich immer mit der Ambition aufs Feld, das Spiel zu gewinnen.

Wie hält man die Balance zwischen Spannungsaufbau und Erholung, wenn man jeden zweiten Tag in die Flieger steigen muss und sich nicht auf dem Sofa zu Hause mit Frau und Kind erholen kann?

Lichtsteiner: Es ist immer fantastisch, mit der Familie Zeit zu verbringen und natürlich fehlt sie mir sehr, wenn ich weg bin. Aber man muss als Fussballprofi damit umgehen können. Ich meine, es gibt viele Menschen, die ebenfalls Höchstleistungen erbringen und ihre Familien über einen weit längeren Zeitpunkt nicht sehen können. Wir Fussballer haben aus meiner Sicht einen Traumjob. Wichtig sind die Erholungsphasen vor allem dann, wenn es einmal nicht so gut läuft. Dann ist es essentiell, Distanz zu gewinnen, um in Ruhe analysieren zu können.

Das hört sich einfach an. Kriegen Sie das immer problemlos hin?

Lichtsteiner: Früher hatte ich Schwierigkeiten damit, heute geht das viel besser. Ich musste das lernen. Ansonsten läuft man Gefahr, Stück für Stück auszubrennen, speziell auf lange Sicht mit diesen langen, kräfteraubenden Saisons.

 Sie trafen gegen Island gleich doppelt. Zum Sieg hat es trotzdem nicht gereicht. Was geht einem da durch den Kopf, wenn man irgendwann nachts im Hotelbett liegt? Spricht man da noch einmal mit dem Zimmerkollegen?

Lichtsteiner: Nach dem Spiel geht es darum, die Emotionen wieder runterzukriegen, um die Partie für sich analysieren zu können. Egal, wie das Spiel ausgeht. Ich beginne immer bei mir selbst. Danach mache ich mir Gedanken übers Team. Selbstverständlich tauscht man sich dann auch mit dem Zimmer- und einigen Teamkollegen aus. Wichtig ist, dass man nicht zu lange bei einem Spiel hängen bleibt. Antonio Conte, mein Trainer bei Juventus Turin, ist in dieser Hinsicht ein grosses Vorbild für mich. Auch in der Saison 2011/2012, in der wir nie verloren haben, wollte er immer Fortschritte sehen. Er war und ist nie zufrieden. Denn es ist schwieriger, oben zu bleiben, wenn man mal oben ist, als jemanden zu jagen. Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld ist in dieser Hinsicht genau gleich, auch wenn er seine Rolle etwas anders interpretiert. Würde er nicht so funktionieren, hätte er niemals mit seinen Teams diese Erfolge gefeiert, die er feiern durfte.

Die Reaktion auf den verschenkten Sieg gegen Island kam vier Tage später in Oslo mit dem 2:0-Sieg über Norwegen vehement. Aber Hand aufs Herz: Hatten Sie im Vorfeld dieses Spiels keine Angst, dass die Schweiz auch in Oslo patzen und somit die sehr gute Ausgangslage in der WM-Qualifikation innert vier Tagen verspielen könnte?

Lichtsteiner: Angst nicht, aber Respekt schon. Hätten wir gegen Norwegen verloren, wäre es sehr schwierig geworden. Der Druck war gross. Und wie einige Spieler, die noch nicht so erfahren sind, mit diesem Druck umgehen würden, war ebenfalls eine Unbekannte. Aber wir haben dies als Team sehr gut gelöst.

Wie hat der Trainer die «Nati» auf dieses Spiel vorbereitet?

Lichtsteiner: Meiner Meinung nach hat Ottmar Hitzfeld in den Tagen zwischen den beiden Spielen alles richtig gemacht. Er hat das Team geschützt, die richtigen Analysen zum richtigen Zeitpunkt gemacht und die richtigen Ansprachen gehalten. Die Mannschaft hat seine Botschaft verstanden. Aber eines möchte ich noch festhalten!

Bitte.

Lichtsteiner: Ich ärgere mich, dass wir den Sack nicht bereits in diesen beiden Spielen mit zwei Siegen zugemacht haben. Denn wird sind deswegen noch nicht definitiv für die Weltmeisterschaft qualifiziert!

Sie haben in Oslo die Offensive weniger gesucht als noch gegen Island, die defensive Stabilität schien wieder deutlich im Vordergrund in den Gedanken des Nationalcoachs zu stehen. Ist Ihnen das schwer gefallen?

Lichtsteiner: Nein. Klar bin ich von Natur aus offensiv orientiert. Aber ich bin mittlerweile erfahren genug, um zu wissen, wann ich zurückstecken muss. Die Problematik im Nationalteam ist, dass man sehr wenig Zeit hat, um miteinander auf dem Feld zu arbeiten. Oft stimmen dann taktische Dinge nicht hundertprozentig. Die Mannschaft verhält sich als Kollektiv nicht immer so, wie sie es sollte. Es geschehen viele kleine Detailfehler, die gravierende Auswirkungen haben können und diese Details lassen sich in dieser Kürze der Zeit kaum beheben. Das geht jedem Nationalteam so. Und deshalb muss man sich dann auf solche Kompromisse einlassen. Ausserdem lief das Spiel mit der frühen Führung auch so, dass wir uns diese Detailfehler erlauben konnten.

Zurück zum Tagesgeschäft: Beim 1:1-Unentschieden am vergangenen Wochenende gegen Inter Mailand wurden Sie zur Pause ausgewechselt. Eine Vorsichtsmassnahme, weil Sie bereits in der 17. Minute die gelbe Karte gesehen hatten?

Lichtsteiner: Ja, so hat es mir der Trainer erklärt. Die Stimmung im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion war «geladen». Fans und Spieler von Inter haben sehr viel Druck auf den Schiedsrichter ausgeübt. Es ist normal, dass sich die Unparteiischen unbewusst davon beeinflussen lassen. Sie sind auch nur Menschen. Und dann kann man ganz schnell mit Gelb-Rot vom Platz fliegen. Ich hätte sehr gerne weitergespielt, aber der Coach hatte recht. Im Sinne des Teams war es besser, in der Halbzeit rauszugehen, um kein Risiko einzugehen.

Sie waren vor genau einem Jahr der erste Torschütze im neuen, schmucken Juventus-Stadion. Stolz darauf, bei einem solchen Traditionsverein Geschichte geschrieben zu haben?

Lichtsteiner: Natürlich, aber der Teamerfolg steht für mich im Vordergrund. Wir haben in den letzten beiden Saisons zweimal die Meisterschaft und zweimal den Super-Cup gewonnen. Das ist alles, was zählt – und das versteht dieser Verein unter «Geschichte schreiben.» Diese Saison wollen wir dies mit aller Macht wiederholen. Aber die Serie A ist zurzeit sehr ausgeglichen, das wird ein hartes Stück Arbeit. In der Champions League und der «Coppa d’Italia» wollen wir weitere Fortschritte zeigen und es besser machen, als in den Jahren zuvor.

Was macht das neue Stadion aus? Es ist ja das mit Abstand modernste Italiens.

Lichtsteiner: Es ist ein Schmuckstück, und unsere Fans unterstützen uns fantastisch. Der Verein hat hier sensationelle Arbeit geleistet. Und es wurde in den letzten Tagen auch die Basis gelegt, um die Infrastruktur des Vereins weiter zu verbessern. Das ist der einzig richtige Weg. Und ich hoffe, dass alle Serie-A-Vereine diesem Beispiel sehr bald und konsequent folgen werden.

Was macht den Mythos «Juve» aus?

Lichtsteiner: Bei Juventus ist alles nochmals wesentlich grösser als bei den Klubs, für die ich vorher meine Schuhe schnüren durfte. Juventus steht für Erfolg. Dies liegt auch an der Familie Agnelli (aus der Fiat-Dynastie; die Redaktion): Sie ist das Hirn, das Herz und das Rückenmark dieses Vereins. Die Leidenschaft und Liebe für diesen Klub ist ansteckend. Die Familie Agnelli ist eine einzigartige Konstante.

Stichwort Familie: Bleibt zwischen all den Spielen und Reisen auch Zeit, Ihre Familie und Freunde in Adligenswil zu besuchen?

Lichtsteiner: Eigentlich nur in den Sommerferien, leider. Aber ich habe auch das Glück, Familienmitglieder und Freunde zu haben, die das verstehen und mich regelmässig in Turin besuchen kommen.

Was bedeutet Ihnen Heimat?

Lichtsteiner: Sie bedeutet mir sehr viel. Und ich glaube, dass ich viele traditionelle Werte unserer Heimat verinnerlicht habe und täglich zeige.

Interview: Silvio Coray

Juventus vs. Parma - Serie A Tim 2012/2013