Autismus: Anders, nicht weniger …

Paola Ramella: «Unser Sohn ist ein fröhlicher, begeisterter Mountainbiker».

Eine Zahnarztwerbung im Bus, jemand, der Kaugummi kaut, Erdbeeren oder Käse isst, äusserst leise Musik in einem Kaffee oder Geschäft, eine unbekannte Frau, die in der Stadt zu nahe kommt. Wie viele von uns würden deswegen total überfordert sein und aus der Fassung geraten? Sehr wahrscheinlich nicht sehr viele. Für einige, äusserlich ganz «gewöhnlich» aussehende Personen stellen die obengenannten Umstände aber eine riesige Herausforderung dar.

Die Rede ist von Menschen mit Autismus. Etwa 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen – sie alle nehmen ihre Umwelt «anders» wahr. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich vor allem in Form von Auffälligkeiten in der Sprache, der Kommunikation und der sozialen Interaktion zeigt. Hinzu kommen Besonderheiten in der sensorischen Wahrnehmung und grosse Probleme, mit Veränderungen umzugehen. Oft kommen ausgeprägte Spezialinteressen sowie repetitives Verhalten hinzu. Autismus kann heutzutage in der Regel im Alter von zwei bis drei Jahren verlässlich diagnostiziert werden. Oftmals wird eine Diagnose aber erst viel später gestellt. Es gibt ein Spektrum von milder bis schwerer Beeinträchtigung. Und: Autismus wächst sich nicht aus. Dank gezielter, therapeutischer Unterstützung und Förderung können sich Autisten aber stark weiterentwickeln und so ihre Fähigkeiten und ihr Verhalten in unserer für sie oft chaotischer und komplizierter Gesellschaft verbessern.

Manchmal braucht es nur ganz einfache Dinge
ASS-Betroffene stossen unerwartet oft in vielen Bereichen ihres Lebens auf Unverständnis. Ich bin Mutter eines 19-jährigen, jungen Mannes mit Autismus und benütze oft den Ausdruck «kein Platz im Leben», um die aktuelle Situation von Autisten zu beschreiben. Autisten sind nicht gleich Autisten. Beziehungen anzufangen und sie aufrechtzuerhalten ist jedoch im Allgemeinen für Autisten eine grosse Herausforderung. Manchmal braucht es nur ganz einfache Dinge, wie sinnvolle und ehrliche Beziehungen, damit sie sich verstanden und angenommen fühlen, wo sie lernen können. Nur Sturheit und peinliche Situationen? Sicher nicht! Die andersartige Denk- und Sichtweise von Menschen mit Autismus fordert einen heraus, kann aber auch neue und nicht weniger spannende Aspekte des Lebens ausserhalb von gängigen Klischees aufzeigen. Autisten sind ausserordentlich loyale Menschen mit einem grossen Gerechtigkeitssinn. Sie können wertvolle, äusserst motivierte und zuverlässige Mitarbeiter sein sowie auch treue Freunde. Leistungswille und Engagement können sie, wie im Falle unseres Sohnes, ohne weiteres mitbringen. Unser Sohn ist zudem ein fröhlicher, begeisterter Mountainbiker und aufgestellter Junge, der sehr gerne mit Gleichaltrigen zusammen sein möchte. Autisten leben heutzutage jedoch öfters am Rande unserer Gesellschaft und ihre Familie mit ihnen.

Sinvoll für unsere Gesellschaft
Nach der obligatorischen Schulzeit hat die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz für unseren Sohn zwei Jahre gedauert. In dieser Zeit mussten wir einiges erleben. Die Realität holte uns ein, dies trotz Begabungen, Intelligenz und Motivation unseres Sohnes. Die Antworten von möglichen Lehrbetrieben waren immer etwa die gleichen: Geringe oder keine Fachkompetenz im Umgang mit Autisten, zu wenig Zeit und Geduld und damit verbunden auch zu wenig Geld für Unterstützung.  Wir haben mit unserem Sohn gelernt, nicht aufzugeben. Letztendlich hat er eine Praktikumsstelle als Schreiner (sein Traumjob) gefunden und dies in  Zürich in einer Schreinerei mit sozialem Hintergrund, Holz&Korb, wo er akzeptiert, geschätzt und gefördert wird. Es wäre schön, wenn Menschen mit Autismus auch im Kanton Luzern vermehrt die Chance erhalten würden, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Eltern und Fachpersonen wären gerne bereit, Lehrbetriebe und Institutionen auf eine unaufdringliche, trotzdem kompetente Weise zu unterstützen. Auch Vereine könnten in Bezug auf Inklusion von Autisten eine wesentliche Rolle spielen. Hilfe und Unterstützung in nächster Umgebung sind bitter nötig. Dies nicht nur zu Gunsten von Einzelnen, sondern der ganzen Gesellschaft.

Selbsthilfegruppe auch in Luzern
Eine Selbsthilfegruppe für ASS-Angehörige gibt es auch in Luzern. Nächstes Treffen: Dienstag, 26. April, 20 bis 22 Uhr im Pfarreizentrum Barfüesser, Luzern.

Paola Ramella: «Unser Sohn ist ein fröhlicher, begeisterter Mountainbiker».
Paola Ramella: «Unser Sohn ist ein fröhlicher, begeisterter Mountainbiker».