Über den Traum und das Trauma

Traum und Trauma können nahe beisammen sein. Bilder jpa.

EMMEN – Neuartiges regionales Kunstprojekt mit Asylsuchenden

Fünfzehn Asylsuchende aus dem Kanton Luzern haben drei Monate lang im «Kunstsilo» in Emmen die Chance, ihre traumatische Flucht aus den Heimatländern unter psychologischer Aufsicht auf kreative Weise zu verarbeiten. Ein spannender Prozess der Selbstfindung, der ihnen den schwierigen Weg in die Zukunft ebnen kann.

pd. Das in der Schweiz wohl einzigartige Projekt unter dem Motto «Ich bin hier» wird auf Initiative des systemischen Psychologen und Supervisors Lothar Steinke nach langer Vorbereitungszeit durchgeführt. Insgesamt stehen in diesem «Selbstverwirklichungs-paradies», einer alten Scheune mit zum Ausstellungsraum umgestalteten Futtersilos, 300 Quadratmeter Atelier und Werkstätten mit kreativitätsfördernder Infrastruktur zur Verfügung. Ein hochkarätiger Beirat, dem u.a. eine Museumspädagogin, eine Textildesignerin, der Kurator eines Museums, Psychologen und Sozialarbeiter angehören, begleitet das neuartige Projekt.

Trauma wird versöhnliche Bildwelt

Da ist etwa der junge Eritreer «Sam» – stockend und mit abgewandtem Blick schildert er seine dramatische Flucht über das Mittelmeer, die er nur durch Zufall überlebt hat. Und jetzt hält er zum ersten Mal in seinem Leben einen Pinsel in der Hand, verfügt über Acrylfarben und Leinwand – was für eine Befreiung! Höchst erstaunlich, was für ausdrucksstarke Bilder aus seinem Innern kommen: Ein blutrünstiger Despot, der Menschen köpft, daneben «Mama Africa», die weint… Der Betrachter spürt: Hier werden Urängste und Traumata ganz unmittelbar zu Bildwelten. Dazu Hilar Stadler, Kurator des Museums Bellpark in Kriens und Beirat des Projekts: «Ich kenne Künstler, die haben eine Technik, eine Sprache, aber müssen Themen suchen. In diesem Kunstprojekt wimmelt es von Themen, aber deren Umsetzung muss gefunden werden – diese Umkehr wird sehr spannend!»

Ein afghanischer Schneider stellt sich mit Galgenhumor als Ameise dar – als solche hätte er im feindseligen Fluchtland Iran eine Chance gehabt. Denn vor Restaurants, Schwimmbädern und auf Spielplätzen sah er Tafeln: «Keine Hunde, keine Afghani». Nun sitzt er augenzwinkernd am ebenfalls lebensgross genähten Bistrotisch. Eine andere Gruppe realisiert aus Alteisen das winzige Boot, auf das 55 Flüchtlinge gepfercht wurden – man soll beim Betreten spüren, wie sich das anfühlt.

Was bringt mir die Zukunft?

Lothar Steinke: «Ich versuche, zusammen mit den fünfzehn Beteiligten für jeden Einzelnen Bilder zu finden, die ihrer inneren Welt authentischen, bildhaften Ausdruck verleihen. Was mache ich mit dem, was ich heute bin, wie sieht meine Zukunft aus?» Die Beurteilung der Qualität und künstlerischen Aussagekraft der einzelnen Werke liege dann beim Betrachter, so Steinke. Die ehrgeizigen Themen und die oft sehr anspruchsvollen Herstellungstechniken werden von den Teilnehmern aus Afghanistan, Eritrea und Sri Lanka prozesshaft erarbeitet. Natürlich wird dabei auf Teamarbeit höchsten Wert gelegt.

Psychologisch subtile Methode

In einem ersten Schritt wird die persönliche Situation jedes Einzelnen in Interviewform «aufgedeckt, ohne zu beschämen, vertieft, ohne zu retraumatisieren», so der feinfühlige Psychologe. Täglich finden Brainstormings mit allen Kolleginnen und Kollegen statt. So lernen sich die jungen Leute intensiv kennen, verbringen die Arbeitstage zusammen, lernen den Austausch untereinander, hin und wieder musizieren und tanzen sie. Dem Projektleiter ist auch wichtig, dass möglichst alle den Dialog mit der Schweizer Bevölkerung suchen – BesucherInnen sind deshalb jederzeit willkommen. Und anlässlich der Vernissage und während der Dauer der Ausstellung sollen möglichst viele Direktkontakte zustande kommen, wenn der Stolz gebrochenes Deutsch und gebrochene Biographien überragt.

Kunstsilo

Das «Kunstsilo» befindet sich an der Spitalhofstrasse in Emmen (Einfahrt vis-à-vis Pfarrkirche Emmen Dorf). Vernissage: 23.September, 16 Uhr; Dauer der Ausstellung bis Sonntag, 8. Oktober, täglich von 9 bis 21 Uhr. Afghanische und eritreische Küche: Mittag- und Nachtessen, Apéros, Sonntagsbrunch. Es finden Führungen statt, auch für Schulklassen, ab 18.September. Weitere Infos unter www.kunstsilo.ch

Jeder Arbeitstag beginnt mit einem Gruppen-Brainstorming und einer Auslegeordnung der
Fortschritte. Projektleiter Steinke balanciert geschickt über alle Sprachgrenzen hinweg.
Traum und Trauma können nahe beisammen sein. Bilder jpa.